Wenn man an die Arbeit bei einer Stadtverwaltung denkt, kommt den meisten das Bild einer*eines Beamtin*Beamten mit einem Stapel Akten auf dem Tisch in den Kopf. Verwaltung halt. Welche Aufgaben eine Stadt darüber hinaus übernimmt, sind oft eher unbekannt. So manche Aufgaben und Berufe bei der Stadt dürften daher überraschen.
So wie die Aufgaben von Dr. med. Patricia Wolff, Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, im Bereich des Infektionsschutzes. Die Einhaltung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) ist eine verpflichtende Aufgabe des Gesundheitsamtes einer Kommune. Was das für ihren Teilbereich des Infektionsschutzes umfasst und wie ihr Arbeitsalltag bei der Stadt aussieht, erzählt sie im Interview.
Hallo Frau Dr. med. Wolff, wie kamen Sie zu dieser Aufgabe bei der Stadt?
"Ich war vier Jahre lang gutachterlich tätig, bevor ich mich bei der Stadt Essen beworben habe. Ich habe während dieser Tätigkeit die vielfältigen Aufgaben des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) kennengelernt. Die gutachterliche Tätigkeit hatte ich gewählt, um eine Atempause von Bereitschafts- und Hintergrunddiensten zu haben, allerdings habe ich recht schnell den direkten Kontakt zu den Patientinnen vermisst und daher nach einer passenden Stelle jenseits von Praxis und Klinik gesucht und bin bei der Stadt Essen fündig geworden."
War Ihnen eine Stadtverwaltung als Arbeitgeberin schon immer präsent für Ihren Berufszweig?
"Nein, offen gestanden nicht. Eine Tätigkeit im Öffentlichen Gesundheitsdienst oder in einem Gesundheitsamt ist erst im Rahmen meiner Ausbildung für die Zusatzbezeichnung "Sozialmedizin" in den Fokus gerückt und interessant geworden – also im Grunde erst ein paar Jahre vor meiner Bewerbung. Ich würde mir wünschen, dass auch diese spannenden ärztlichen Betätigungsfelder bereits im Medizinstudium mehr Raum erhielten. Nicht erst seit der Pandemie ist Public Health / der ÖGD ein sehr wichtiger Baustein in unserem Gesundheitssystem."
Was gehört zu Ihren Aufgaben?
"Ich arbeite in der Beratungsstelle zu HIV (Humanes Immundefizienz-Virus) und STI (sexuell übertragbare Infektionen) im Gesundheitsamt der Stadt Essen und decke dort das ärztliche Angebot ab. Neben mir arbeiten in der Abteilung Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagoginnen, zwei Krankenpflegerinnen und seit kurzem habe ich auch eine ärztliche Kollegin, die Fachärztin für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie ist.
Wir beraten und untersuchen Menschen bei bestehenden Risiken auf sexuell übertragbare Krankheiten. Das Angebot ist anonym, freiwillig und kostenfrei und kann von Personen, die in der Sexarbeit tätig sind, wahrgenommen werden, aber nach eingehender Risikoanamnese auch von der Allgemeinbevölkerung.
Es werden bei Bedarf Abstrichuntersuchungen an verschiedenen Körperstellen auf Chlamydien, Gonorrhoe und gegebenenfalls auch auf andere sexuell übertagbare Erkrankungen angeboten. Im Blut/Serum kann eine HIV- und Syphilisdiagnostik durchgeführt werden. Bei den Sexarbeiterinnen ohne Krankenversicherungsschutz kann ich zusätzlich Ultraschalluntersuchungen und die Krebsvorsorge des Gebärmutterhalses anbieten, außerdem können bei diesen auch Schwangerschaften festgestellt und im seltenen Einzelfall medizinisch begleitet werden. Die Themen Schwangerschaftsverhütung und Impfprophylaxe finden natürlich auch Raum."
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
"Wir bieten eine Terminsprechstunde an. Unser Untersuchungszimmer ähnelt dem einer normalen gynäkologischen Praxis, dort finden die oben genannten Untersuchungen statt. Wir haben weitere Angebote unter aderem mit unserem Kooperationspartner der Aidshilfe Essen e.V. und bieten aktuell in verschiedenen Stadtteilen einen Hepatitischeck an ("HEP CHECK"), wir sind einmal im Monat abends mit einem Testangebot ("Teste mich") in der Aidshilfe und mehrmals jährlich sind ärztliche Kollegen mit einem Testangebot in der Schwulenszene vor Ort ("Der Doktor kommt").
Meine ärztliche Kollegin und ich sind mehrfach im Monat außerhalb des Gesundheitsamtes tätig (zum Beispiel auf dem Straßenstrich und in der Bordellstraße) und bieten auch dort Abstrichuntersuchungen, Blutentnahmen und bei Bedarf die Behandlung und Versorgung von Bagatellerkrankungen und -wunden an. Nach § 19 des Infektionsschutzgesetz (IfSG) "Aufgaben des Gesundheitsamtes in besonderen Fällen" kann bei Menschen ohne Krankenversicherungsschutz auch die ambulante Behandlung einer sexuell übertragbaren Infektion erfolgen."
Warum muss diese Aufgabe erfüllt werden? Gibt es dazu eine Verpflichtung?
"Ja, die gibt es: Gemäß § 19 des IfSG sollen Gesundheitsämter Beratung und Untersuchung bezüglich sexuell übertragbarer Krankheiten sowie Tuberkulose anbieten oder sollen diese in Zusammenarbeit mit anderen medizinischen Einrichtungen sicherstellen. Auch, dass das Angebot bezüglich STIs anonym in Anspruch genommen werden kann, findet Erwähnung im Gesetz. Spezifiziert wird das Ganze dann auf Landesebene im Gesetz über den Öffentlichen Gesundheitsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen (ÖGDG NRW).
Gemäß §10 des Prostituiertenschutzgesetzes soll eine gesundheitliche Beratung durch eine für den öffentlichen Gesundheitsdienst zuständige Behörde angeboten werden: jährlich, beziehungsweise halbjährlich bei unter 21-jährigen Menschen. Die Beratung soll Fragen der Krankheitsverhütung, der Empfängnisregelung, der Schwangerschaft und der Risiken des Alkohol- und Drogengebrauchs einschließen.
Aus dieser Beratungssituation erwächst bei vielen in der Sexarbeit tätigen Personen der Wunsch nach einer Untersuchung. Bei Bedarf erfolgt dann eine Überleitung an mich."
Welche Bedeutung hat Ihre Arbeit für Sie beziehungsweise für Ihre Patientinnen*Patienten? Welche Herausforderungen gibt es?
"Ich erlebe, dass viele Menschen dankbar sind für unser Beratungs- und Untersuchungsangebot. Viele, die das erste Mal bei uns sind, wünschen sich, dass unser Angebot noch mehr publik gemacht würde. Ich kann mit unseren niederschwelligen Möglichkeiten auch Menschen erreichen, die in prekären Situationen leben und ansonsten durch das medizinische Raster fallen.
Berührungsängste mit den Lebenswelten unserer Zielgruppen oder Vorurteile sind bei meinem Job hinderlich.
Hin und wieder stolpere ich natürlich über krankhafte gynäkologische oder auch andere behandlungsbedürftige Befunde. Herausfordernd ist dann die Suche nach ärztlichen Kolleginnen*Kollegen oder Kliniken, die bereit sind, meine Klientinnen*Klienten, die nicht krankenversichert sind und meistens in einer schwierigen Situation leben, zu untersuchen und zu behandeln. Meine Tätigkeit hat also auch viele "sozialarbeiterische" Aspekte, denen ich mich gerne stelle."
Welche Vorteile bietet Ihnen Ihre Anstellung bei der Stadtverwaltung im Vergleich zur Arbeit in einer Praxis / in einem Krankenhaus?
"Ich habe Gestaltungspielräume und kann bei der inhaltlichen Ausrichtung meiner Tätigkeit und der der Abteilung mitwirken. Zudem habe ich einen umgrenzten Verantwortungsbereich, was durchaus auch entlastend sein kann. Ich arbeite mit vielen verschiedenen Professionen und Kooperationspartnern zusammen, die die Tätigkeit sehr abwechslungsreich machen. Auch eine Arbeitszeiterfassung ist in meinem Beruf immer noch nicht überall Standard und daher für mich ein Zugewinn."
Gibt es auch Nachteile?
"Das Entgelt für eine*einen Fachärztin*Facharzt fällt geringer aus als in Klinik oder Praxis, obwohl inzwischen Zulagen gewährt werden."
Würden Sie anderen Ärztinnen und Ärzte einen Einstieg in den öffentlichen Dienst empfehlen?
"Für meine Lebenssituation und für meinen Interessensschwerpunkt ist die Tätigkeit bei der Stadt optimal und weiterhin sehr spannend und abwechslungsreich. Ich denke, dass der ÖGD innerhalb der Ärzteschaft zuletzt an Interesse und Bedeutung gewonnen hat. Dennoch müssten – wie oben bereits erwähnt – die Möglichkeiten, die der ÖGD bietet, bereits im Medizinstudium präsenter sein. Dieses und eine attraktivere Vergütung würde bestimmt dazu führen, dass sich mehr Ärztinnen*Ärzte für den öffentlichen Dienst entscheiden."